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Rezension „Design und künstliche Intelligenz“

Theoretische und praktische Grundlagen der Gestaltung mit maschinell lernenden Systemen

von Marc Engenhart und Sebastian Löwe, Birkhäuser Verlag, Basel, 2022

Rezension „Design und künstliche Intelligenz“ von Marc Engenhart und Sebastian Löwe, Birkhäuser, 2022

Mein BDG-Kollege und Designer Marc Engenhart hat bereits 2020 zusammen mit Sebastian Löwe (Professor für Designmanagement an der Berliner Mediadesign Hochschule) die Konferenz „Designing with Artificial Intelligence (dai)“ organisiert und dazu einen begleitenden Sammelband herausgegeben. Mit „Design und künstliche Intelligenz“ legen die beiden Autoren jetzt ein umfangreiches Grundlagenwerk zu einem der aktuell spannendsten Themen unseres Berufsbild vor.

Das rund 200 Seiten starke Paperback aus dem Schweizer Birkhäuser Verlag ist in fünf Kapitel gegliedert:

1. Künstliche Intelligenz als Designproblem

Das erste Kapitel führt kurz und knapp in die weitläufige Thematik ein. Aber die vier Seiten haben es in sich. Den der Einzug von KI in die Welt der Gestaltung wirft weitreichende Fragen auf – hier nur ein paar Beispiele: Wie verändert KI den Designprozess und die Arbeitsweisen im Design? Wie verändern sich die Aufgabenbereiche von Designschaffenden? Wem gehören die Bilder? Wie kann sichergestellt werden, dass KI-Systeme ethisch verantwortungsvoll eingesetzt werden? Welche Möglichkeiten für die Nutzenden und welche Prinzipien guter Gestaltung ergeben sich? Welche neuen Geschäftsmodelle ergeben sich? Wie verändert sich der Begriff „Kreativität“ durch KI-Gestaltung?

Natürlich kann ein Buch zu diesem sich rasant entwickelnden Thema all diese Fragen nicht abschließend beantworten. Aber den Autoren gelingt es, in den folgenden Kapiteln durch eine nachvollziehbare Strukturierung der Fragen Orientierung – und erste Antworten – zu bieten.

2. Grundfragen künstlich-intelligenter Systeme

Im zweiten Kapitel erläutern die Autoren zunächst überzeugend, warum für Designerinnen und Designer überhaupt die Notwendigkeit besteht, sich mit künstlicher Intelligenz zu befassen. Danach legen sie ausführlich die Grundlagen und unterschiedlichen Arten maschinellen Lernens dar. Dabei gehen sie bis in die mathematischen Grundlagen von künstlichen neuronalen Netzwerken, Convolutional Neural Networks (CNNs), Recurrent Neural Networks (RNNs) und Generative Adversarial Networks (GANs) ein. Das Kapitel schließt mit Betrachtungen zur Zukunft, der Ethik und den Konsequenzen für das Design ab.

3. Gestaltung mit und für intelligente Systeme

Im ersten Teil des dritten Kapitel geht es dann konkret darum, wie man mit intelligenten Systemen gestalten kann. Entlang von fünf Phasen eines – sehr allgemein verstandenen – Designprozesses beleuchten die Autoren verschiedene Anwendungsbereiche:

Phase 1 – Recherche (Strategie und Needfinding)

Hier stehen Analyse- und Vorhersagetools im Mittelpunkt. Denn KI-Systeme ermöglichen es, aus umfangreichen Daten Prognosen über Akzeptanz und Erfolg von Produkten vorherzusagen, zum Beispiel als Social-Listening- oder Social-Media-Sentiment-Analyse. Aber auch Daten, die z. B. in der Automobilindustrie durch die Benutzung der Produkte selbst gesammelt werden, können mit KI-Analysen wertvolle Erkenntnisse für Produkt(weiter)entwicklungen liefern. Als zweiten Bereich beleuchten die Autoren die User Research, bei der künstliche Intelligenz z. B. dabei helfen kann, bessere Personas zu erstellen und Customer Journeys besser zu verstehen. Die Autoren weisen aber auch deutlich auf die bestehenden Unzulänglichkeiten der Systeme und die Notwendigkeit, die Ergebnisse und Vorhersagen kritisch zu überprüfen, hin.

Phase 2 – Ideenfindung (Ideation und Inspiration)

Werkzeuge wie GPT-3 helfen im Design dabei, den Lösungsraum sinnvoll zu erkunden. So gibt es auch Systeme, die z. B. gezielt besonders abwegige Vorschläge erzeugen und damit neue Ideen bei den Designer:innen hervorrufen können. Auch bei der Erstelllung von Mind-Maps oder Mood-Boards kann Künstliche Intelligenz helfen, mehr Möglichkeiten in kürzerer Zeit zu erkunden. KI-Tools können die Ideenfindung also nicht nur durch eigene Ideen beschleunigen, sondern auch neue Einfälle prvozieren oder Designexperimente ermöglichen und die Ergebnisse in kürzerer Zeit zu erstellen, zu ordnen und zu bewerten.

Phase 3 – Exploration (Suche und Generierung)

Ein Bereich ist hier die Suche nach Gestaltungselementen und -lösungen. Hier sind KI-Systeme schon länger (oft im Hintergrund) aktiv und helfen dabei, Gesuchtes zielsicher zu finden, z. B. bei der Adobe-Bildersuche. Schon jetzt gehen die Möglichkeiten aber weit über Text- und Bildinhalte hinaus, und umfassen 3D-Daten, Website-Wireframes u. v. m.. Der zweite Bereich der Explorationsphase sind künstliche Intelligenzen zur Bildgenerierung (GANs und Variational Autoencoders (VAEs)). In diesen Bereich gehören z. B. die Neural Filters in Adobe Photoshop.

Phase 4 – Konzeption (Low-Fidelity Prototyping)

Als „Low-Fidelity Prototyp“ bezeichnen die Autoren ein mit möglichst geringem Aufwand erstelltes Design, das in wesentlichen Dimensionen einer finalen Lösung nahekommt. Eine Beispiel, bei der KI-Systeme bei der Erstellung von Prototypen unterstützen können sind Systeme, die Handzeichnungen und Skizzen in erste grafische Lösungen verwandeln, z. B. GauGAN2. Zu diesem Bereich zählen auch System, die aus Wireframe-Skizzen fertig gecodete HTML-Seiten erstellen, aus Porträtfotos Karikaturen generieren oder aus 2D-Abbildungen dreidimensionale Objekte erzeugen können.

Phase 5 – Umsetzung (Designoptimierung und -automatisierung)

In dieser Phase geht es um die finale Umsetzung, Reinzeichnung und den Transfer in nutzbare Produkte. Intelligente Systeme unterstützen in dieser Phase zum einen durch Optimierung znd zum anderen durch Automatisierung. Auch hier führen die Autoren wieder eine große Bandbreite an Beispielen und Anwendungen auf, von System die Farbkombinationen verbessern bis zu Systemen, die automatisiert Trailer für Filme erstellen können. Spannend für Kommunikationdesigner:innen ist DesignScape, ein System, das im Layoutprozess unterstützen kann.

Im zweiten Teil des Kapitels geht es dann um die Gestaltung für Intelligente Systeme.

Das dritte Kapitel schließt mit eine ausführlichen Betrachtung der möglichen Auswirkungen auf Gestaltung und Designer:innen. Wie verändert sich das Verständnis von Kreativität, Autorschaft und Design? Welche Herausforderungen ergeben sich daraus und welche Fähigkeiten werden für Designer:innen wichtig? Wie muss sich die Designausbildung verändern? Welche rechtlichen und ethischen Fragen ergeben sich? Und schließlich wie kann neue Wertschöpfung enstehen und welche Strategien für intelligente Produkte ergeben sich?

4. Anwendungsfälle intelligenter Systeme im Designprozess

Das vierte Kapitel stellt sechs konkrete Beispiele ausführlich vor. Den Auftakt macht der „DHL Layout Creator von Strichpunkt“ (der auch auf der CXI 2019 vorgestellt wurde). Die „digitale Designassistenz“ ersetzt klassische Corporate-Design-Manuals und automatisiert das Layout für unterschiedliche Medien der Unternehmenskommunikation. Die Frage, ob der Layout Creator die Arbeit von Designer:innen gefährdet bejaht der Informatiker Andreas Stiegler, der Teil des Entwicklungsteams war. Er ist überzeugt, dass das System den Designer:innen genau die Arbeit abnimmt, die (den meisten) nur bedingt Spaß macht – Formatadaptionen mit immer gleichen Elementen – und somt Freiräume für wirklich kreatives Arbeiten schafft. Leider ist der DHL Layout Creator nicht öffentlich zugänglich, so dass man sich (noch) kein eigenes Bild davon machen kann.

Es folgen zwei Beispiele aus der Medienkunst mit den Projekten „Neural Zoo“ und „Artificial Remnants“ der portugiesischen Künstlerin Sofia Crespo. Für die Künstlerin verändern intelligente Systeme nachhaltig die Art und Weise, wie man als Gestalter:in vorgeht. Die Systeme machen den Prozess unvorhersehbarer und unkontrollierbarer aber auch inspirierender.

Das dritte Projekt ist aus dem Bereich Interface Design. Hier wird der „Einstein Designer“ von Salesforce vorgestellt, der Interface und UI gestalten kann. Im Unterschied zu Designer:innen kann ein System wie Einstein Designer relevante Veränderungen erkennen und vorschlagen, die auch weniger kreativ sind.

Aus dem Bereich Modedesign stammt das vierte Projekt, „Pangolin Dress“ von Anouk Wipprecht.

Mit „Spacemaker“ von Autodesk wird im fünften Projekt eine Anwendung aus dem Bereich der Architektur gezeigt. Das Programm kann z. B. verschieden Analysen von Mikroklima, Geräuschen, Blick- und Sicht- sowie Gebäudeanalysen durchführen. Es ist auch als Free Trial erhältlich, so dass man es ausprobieren kann (was ich aber nicht getan habe).

Den Abschluss bildet das Projekt „Archive Dreaming“ von Rafik Anodol, als Beispiel für Interaktionsdesign. Das Projekt liefert einen spielerischen Eindruck davon, wie mit unübersichtlich großen Datenmengen umgegangen werden kann.

5. Mit intelligenten Systemen gestalten – ein praktischer Einstieg

Den Abschluss bildet ein Kapitel, in dem die Autoren –  basierend auf einer eigenen Umfrage unter Designschaffenden – mögliche Einstiege in das Thema skizzieren. Da auch aus Sicht der Befragten kein möglicher Anwendungsbereich klar im Fokus steht, gibt es sehr vielfältige Möglichkeiten für den Einsatz von künstlicher Intelligenz. Vielfältige Inspirationen zum Einstieg und möglichen Nutzungen bieten die spekulativen Szenarien, die Marc Engenhart auf seinem Unthinkable Hub veröffentlicht. Experimentelle Werkzeuge ermöglichen einen spielerischen Zugang (so wie ich es mit meinem Team bei LIVING CONCEPT in einem Workshop gemacht habe) – die Autoren führen hier als Beispiel den „Open Type Font Generator“ an. Das Projekt war Teil der Sonderausstellung „ABC. Avantgarde – Bauhaus – Corporate Design“ des Gutenberg-Museums in Mainz war. Mit dem OTFG kann jeder experimentelle Schriften auf Basis von Gesichtsausdrücken erstellen. Ein zweites spannendes experimentelles Werkzeug ist StyleClip, das es erlaubt, Bilder mit Texteingaben zu bearbeiten.

Ein umfangreiches Literaturverzeichnis erlaubt es, noch tiefer in die einzelnen Themenbereiche einzusteigen.

Fazit: Empfehlenswert, aber keine leichte Kost

Die Gliederung des Buchs macht – da zunächst grundsätzliche wissenschaftliche und theoretische Fragen erläutert werden – den Einstieg nicht leicht. Auch der – sinnvollerweise – sehr breit gefasste Designbegriff erfordert eine intensive Lektüre, bevor sich anwendbare Erkenntnisse für die eigene Praxis finden lassen. Der „Blick über den Tellerrand“ ist aber auch die Stärke des Buchs. Denn die vielen unterschiedlichen Anwendungen und Projekte machen deutlich, wie umfassend künstliche Intelligenz die Art wie wir arbeiten werden verändern wird.

Das Buch hat erkennbar nicht das Ziel, Designpraktizierenden einen schnellen und einfachen Einstieg in das Thema zu bieten. Vielmehr sollen hier „Theoretische und praktische Grundlagen der Gestaltung mit maschinell lernenden Systemen“ gelegt werden. Und diesem Anspruch werden die beiden Autoren mehr als gerecht. Der Aufbau ist schlüssig, das schnell unübersichtlich wirkende Feld der sich durch KI ergebenden Möglichkeiten wird systematisch und gründlich ausgeleuchtet.

„Design und künstliche Intelligenz“ ist also weniger ein Buch, das man liest und danach „weiß, wie es geht“. Dafür ist das Thema Künstliche Intelligenz einfach zu groß und vielschichtig, die Möglichkeiten der Anwendung zu vielfältig. Aber das Buch eignet sich gut zum Immer-wieder-in-die-Hand-nehmen und nachlesen, wenn man erst einmal angefangen hat, sich mit dem Bereich KI zu beschäftigen.

Es liegt in der Natur des Themas, dass sich einiges schnell überholen mag. Deshalb bietet die Website zum Buch noch eine Reihe weiterer Ressourcen.

www.designundki.de